Gedichte Februar 1870

Für den Basar zum Besten des Berliner Asylvereins für Obdachlose

Der Winter kommt gefahren,
Er treibt die Welt zu Paaren,
Der Ostwind ist sein Speer,
Der Schneesturm sein Gewehr.

Mit eisbehangner Schleppe,
Ein Beutefürst der Steppe,
Fällt er bei Nordlichtschein
In unsre Hürden ein.

Und richtet seine Zelte,
Und schlägt das Land mit Kälte,
Und legt ihm, der Tyrann,
Wildstarre Fesseln an.

Derweil bei Tag die Sonne
Strahlt herrlich und in Wonne,
Und nächtens ruhig brennt
Und blitzt das Firmament.

Venus mit prächt’gem Scheine,
Beinah‘ wie eine kleine
Mondsichel anzusehn,
Flammt nieder, ernst und schön.

Und o, des duftumwallten,
Des knisternden, des kalten
Frührots! Der Wolke stiebt! –
Weh, daß es Arme gibt!

Weh, daß es gibt, die darben,
Weh, daß aus Nordlichtgarben
Zu frohem Erntefest
Kein Korn sich schwingen läßt!

Weh, daß, der Not zu steuern,
An jenen ew’gen Feuern
Kein obdachloser Mann
Die Hand sich wärmen kann.

Weh, daß dies glühnde, blanke
Gewölb‘ für tausend Kranke
Und Hungernde zur Frist
Das einz’ge Obdach ist!

Daß Kinder, Weiber, Greise,
Ärmer als Rab‘ und Meise,
Nicht wissen, wo zu Nacht
Das Bett für sie gemacht.

Und alles das inmitten
Der Wagen und der Schlitten,
Bei Börse, Bank und Ball
Und stolzem Waffenschall!

Weh, all der alten Wunden
Der Menschheit, oft verbunden,
Und immer noch nicht heil! –
Auf, wirk‘ auch du dein Teil!

Auf, rühr‘ auch du die Schwinge,
Flieg aus, mein Lied und singe!
Flieg aus! in Reif und Schnee
Nach warmen Herzen späh‘!

Flieg aus! O sieh, schon feuchten
Sich Augen! Augen leuchten!
Sieh, Hände weit und breit
In Liebe hilfbereit.

Das ist das Wort! Ja: Liebe!
Sing immer: Liebe! Liebe!
Die Liebe hegt und hält,
Die Liebe heilt die Welt.


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