Vogel der Weisheit
Ward ich genannt;
Ich saß auf Minervens Altare,
Ihr heiliges Feuer hütend.
Nun liegt er in Trümmern,
Der Tempel der Göttin
Auf Cecrops Burg,
Erloschen und verweht
Von ihrem Hochaltare
Die letzten Opferfunken.
Da hab‘ ich der Nacht mich ergeben,
Und schlafe den langen Tag;
Und wann die Menschen träumen,
Dann schau‘ ich mit blitzenden Augen
Über die dunkle Erde
Und schreie Wehe! Wehe!
Über die Thorheit des hellen Tages!
Aber die Menschen verstehn mich nicht;
Sie zittern, wenn sie mich hören,
Nennen mich Weheverkünderin,
Und ich verkünde doch Wahrheit nur.
Über Hellas flog ich hin
Um Mitternacht;
Am Himmel war kein Stern zu sehn,
Und blutigroth in Nebelwolken
Schwamm des Mondes Sichel hin.
Aber von flammenden Städten,
Aber von rauchenden Hütten,
Aber von glühenden Scheiterhaufen
War es weit und breit so hell,
Hell wie der Tag,
Und ich rief Wehe! Wehe!
Über den Schimmer des hellen Tages.
Ich hörte blutende Säuglinge winseln
An gemordeter Mütter Brüsten,
Sah aus den Klausen heilige Jungfraun
Schleifen zur Schlachtbank rasender Lust,
Sahe die Tempel des Kreuzes
Niedergerissen in Trümmern liegen,
Und die zerstückten Gebeine
Ihrer Priester dazwischen
Über die Steine gestreut.
Da drückt‘ ich die blitzenden Augen zu
Und unter mir hört‘ ich noch lange
Ein Heulen, ein Jammern, ein Wimmern,
Ein Jauchzen, ein Fluchen, ein Knirschen –
Dann ward es still.
Und ich schlug die blitzenden Augen auf,
Da standen an eines Flusses Ufer
Heere des Kreuzes zu Roß und zu Fuß;
Ich konnte sie nicht absehen,
So hoch ich mich mochte schwingen.
Und Waffen trugen sie in den Händen,
Und ihre Blicke glühten,
Wie ihre Lanzenspitzen,
Nach Blut.
Da rief ich Wehe! Wehe!
Da rief ich Rache! Rache!
Da rief ich Hülfe! Hülfe!
Und lange hätt‘ ich noch geschrien,
Da ward’s im Morgen helle,
Und in die Augen flimmerte
Verblendend mir das Tageslicht.
Und ein Schwarm von höhnischem Luftgesindel
Flog schnarrend und pfeifend mir um das Haupt,
Mein Schreien übertäubend.
Da rief ich Wehe! Wehe!
Über die Thorheit des hellen Tages!