Gedichte Der Waller

Auf Galiciens Felsenstrande
Ragt ein heil’ger Gnadenort,
Wo die reine Gottesmutter
Spendet ihres Segens Hort.
Dem Verirrten in der Wildnis
Glänzt ein goldner Leitstern dort,
Dem Verstürmten auf dem Meere
Öffnet sich ein stiller Port.

Rührt sich dort die Abendglocke,
Hallt es weit die Gegend nach;
In den Städten, in den Klöstern
Werden alle Glocken wach.
Und es schweigt die Meereswoge,
Die noch kaum sich tobend brach,
Und der Schiffer kniet am Ruder,
Bis er leis sein Ave sprach.

An dem Tage, da man feiert
Der Gepriesnen Himmelfahrt,
Wo der Sohn, den sie geboren,
Sich als Gott ihr offenbart,
Da in ihrem Heiligtume
Wirkt sie Wunder mancher Art;
Wo sie sonst im Bild nur wohnet,
Fühlt man ihre Gegenwart.

Bunte Kreuzesfahnen ziehen
Durch die Felder ihre Bahn,
Mit bemalten Wimpeln grüßet
Jedes Schiff und jeder Kahn.
Auf dem Felsenpfade klimmen
Waller, festlich angetan;
Eine volle Himmelsleiter
Steigt der schroffe Berg hinan.

Doch den heitern Pilgern folgen
Andre, barfuß und bestaubt,
Angetan mit härnen Hemden,
Asche tragend auf dem Haupt;
Solche sind’s, die der Gemeinschaft
Frommer Christen sind beraubt,
Denen nur am Tor der Kirche
Hinzuknieen ist erlaubt.

Und nach allen keuchet einer,
Dessen Auge trostlos irrt,
Den die Haare wild umflattern,
Dem ein langer Bart sich wirrt;
Einen Reif von rost’gem Eisen
Trägt er um den Leib geschirrt,
Ketten auch um Arm‘ und Beine,
Daß ihm jeder Tritt erklirrt.

Weil erschlagen er den Bruder
Einst in seines Zornes Hast,
Ließ er aus dem Schwerte schmieden
Jenen Ring, der ihn umfaßt.
Fern vom Herde, fern vom Hofe
Wandert er und will nicht Rast,
Bis ein himmlisch Gnadenwunder
Sprenget seine Kettenlast.

Trüg er Sohlen auch von Eisen,
Wie er wallet ohne Schuh,
Lange hätt er sie zertreten,
Und noch ward ihm nirgend Ruh.
Nimmer findet er den Heil’gen,
Der an ihm ein Wunder tu;
Alle Gnadenbilder sucht er,
Keines winkt ihm Frieden zu.

Als nun der den Fels erstiegen
Und sich an der Pforte neigt,
Tönet schon das Abendläuten,
Dem die Menge betend schweigt.
Nicht betritt sein Fuß die Hallen,
Drin der Jungfrau Bild sich zeigt,
Farbenhell im Strahl der Sonne,
Die zum Meere niedersteigt.

Welche Glut ist ausgegossen
Über Wolken, Meer und Flur!
Blieb der goldne Himmel offen,
Als empor die Heil’ge fuhr?
Blüht noch auf den Rosenwolken
Ihres Fußes lichte Spur?
Schaut die Reine selbst hernieder
Aus dem glänzenden Azur?

Alle Pilger gehn getröstet,
Nur der eine rührt sich nicht,
Liegt noch immer an der Schwelle
Mit dem bleichen Angesicht.
Fest noch schlingt um Leib und Glieder
Sich der Fesseln schwer Gewicht;
Aber frei ist schon die Seele,
Schwebet in dem Meer von Licht.


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Gedichte Der Waller - Uhland