Gedichte Die weiße Dohle

Eine Dohle sah öfters zu, wie reichlich die Tauben auf einem Bauernhof gefuttert wurden. „Sie bekommen das Futter hingestreut“, dachte sie neidisch, „während ich es mühsam suchen muß. Ich will lieber eine Taube werden!“

Was tat sie nun? Sie bemalte sich weiß vom Kopf bis zum Fuß, glättete ihr Gefieder und mischte sich unter den Taubenschwarm. Vergnügt pickte sie die Körner auf. Die Tauben ließen sie ruhig gewähren, denn keine vermutete, daß dies ein fremder Vogel sei. So ging das einige Tage – bis die Dohle so unklug war, ihren Schnabel aufzutun und ihr Gekrächze hören zu lassen.

„Eine Dohle, eine verkleidete Dohle!“ schrien die Tauben wütend, stürzten auf sie zu und hätten sie unbarmherzig totgebissen, wenn es ihr nicht gelungen wäre zu entfliehen.

Reumütig kehrte die Dohle zu ihrer Sippe zurück. Jedoch die andern Dohlen erkannten sie nicht mehr in ihrem weißen Kleide. Bösartig hackten sie auf den fremden Vogel los. Sie duldeten nicht, daß er unter ihnen lebte.

So wurde die weiße Dohle heimatlos und hatte es noch viel schwerer, sich ihre Nahrung zu suchen.


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Gedichte Die weiße Dohle - Aesop