Gedichte Kunst, die Spröden zu fangen

Erste Erzählung

Verzweifelt nicht, ihr Jünglinge, wenn eure Mädchen spröde sind. Niemals hat noch die Kälte der mütterlichen Lehren ein weibliches Herze so zu Eise gehärtet, daß es der alles erwärmende Hauch der Liebe nicht hätte zerschmelzen sollen.
Hört, was mir mein Freund erzählte, dem ich sonst viel glaube:
Ich liebte ein Mädchen recht feurig, recht zärtlich; aber sie floh die Jünglinge und die Liebe, weil ihr die Mutter die Jünglinge und die Liebe sehr fürchterlich gemalt hatte. Das schreckte mich nicht ab, es machte mich nur behutsam.

Ich seh’s, du kennst sie nicht, die Liebe, dacht ich,
Denn wer sie kennt, der flieht sie nicht.
Wie leicht wird’s sein, dich zu entzünden,
Da du so unerfahren bist?
Die Liebe sollst du bald empfinden,
Und sollst nicht wissen, daß sie’s ist.

Wenn ich sie im Haine antraf, redete ich sie ganz trocken an. Meine Kälte betrog sie, daß sie nicht floh und mit sich reden ließ. Ich sagte ihr viel von erhabnen Empfindungen, die ich Freundschaft nannte; leicht gewann ich da ihre Vertraulichkeit.

Dem Mädchen ward nebst andern Gaben
Viel feuriges Gefühl geschenkt,
Da meint’s, es denke gleich erhaben,
Da es doch nichts als feurig denkt.

Ich ward ihr Freund, sie meine Freundin. Mein Umgang fing an, ihr täglich weniger gleichgültig zu werden. Sie freuete sich, wenn ich kam, und betrübte sich, wenn ich ging.

Was bei des Jünglings Blicken
Ein jedes Mädchen fühlt,
War das, was mit Entzücken
Sie nur für Freundschaft hielt.

Ich war oft mit ihr alleine gewesen, doch hatte ich es nicht wagen dürfen, die Lehren der Mutter mit Gewalt anzugreifen. Nach und nach suchte ich sie mit List zu untergraben. Seit einiger Zeit war ich ihr Lehrer geworden, hatte sie viel Gutes gelehrt; und dem Liebhaber glaubt ein Mädchen immer mehr als der Mutter. Da fing sie an zu zweifeln, ob auch die Mutter immer möchte wahr geredet haben. Das merkte ich, und wußte ihre Zweifel zu nähren.

Einst saß sie, meinen Lehren
Aufmerksam zuzuhören;
Da sprach ich: „Du mußt wissen,
Daß auch die Freunde küssen,
Die Freunde so wie ich und du -„
Ich wagt es – und sie ließ es zu.

Da ich den ersten so leicht erhalten hatte, konnte ich noch eher auf den zweeten hoffen.

Nie schmeckt ein Mädchen einen Kuß,
Die sich nicht nach dem zweeten sehnte.
Oft wiederholt ich meinen Kuß,
Daß sie sich bald daran gewöhnte.
Wenn ich sie sah und sie nicht küßte,
Sprach gleich ihr Blick, daß sie etwas vermißte.

Der glückliche Fortgang meiner Eroberungen machte mich stolz, und wer stolz ist, ist kühn.

So schwer ist’s nicht, wie ich geglaubt,
Dem Mädchen eine Gunst zu rauben;
Hat sie uns nur erst eins erlaubt,
Das andre wird sie schon erlauben.

Sobald ich sie wiedersah, redete ich feuriger, küßte ich sie feuriger als sonst. Ich sah, daß sie bewegt ward.

Da wagt’s mein Arm, sie zu umschließen.
Sie ließ es zu.
Da wagt’s mein Mund, die weiße Brust zu küssen.
Sie ließ es zu.
Doch eilends sprang sie auf. „Dich werd ich fliehen müssen,
Gefährlicher!“ rief sie und ließ nichts weiter zu
Und floh. Soweit gelang mir mein Bemühen.
Ich folg ihr langsam, da sie flieht;
Denn eher wird sie bei dem Fliehen
Als ich bei dem Verfolgen müd.


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