Gedichte Der Fremdling

Der Frau Bergrätin von Charpentier gewidmet

Müde bist du und kalt, Fremdling, du scheinest nicht
Dieses Himmels gewohnt – warmere Lüfte wehn
Deiner Heimat und freier
Hob sich vormals die junge Brust.

Streute ewiger Lenz dort nicht auf stiller Flur
Buntes Leben umher? spann nicht der Frieden dort
Feste Weben? und blühte
Dort nicht ewig, was einmal wuchs?

O! du suchest umsonst – untergegangen ist
Jenes himmlische Land – keiner der Sterblichen
Weiß den Pfad, den auf immer
Unzugängliches Meer verhüllt.

Wenig haben sich nur deines verwandten Volks
Noch entrissen der Flut – hierhin und dorthin sind
Sie gesäet und erwarten
Beßre Zeiten des Wiedersehns.

Folge willig mir nach – wahrlich ein gut Geschick
Hat hieher dich geführt – Heimatsgenossen sind
Hier, die eben, im Stillen,
Heut ein häusliches Fest begehn.

Unverkennbar erscheint dort dir die innige
Herzenseinheit – es strahlt Unschuld und Liebe dir
Klar von allen Gesichtern,
Wie vorzeiten im Vaterland.

Lichter hebt sich dein Blick – wahrlich, der Abend wird,
Wie ein freundlicher Traum, schnell dir vorübergehn,
Wenn in süßem Gespräche
Sich dein Herz bei den Guten löst –

Seht – der Fremdling ist hier – der aus demselben Land
Sich verbannt fühlt, wie Ihr; traurige Stunden sind
Ihm geworden – es neigte
Früh der fröhliche Tag sich ihm.

Doch er weilet noch gern, wo er Genossen trifft,
Feiert munter das Fest häuslicher Freuden mit;
Ihn entzücket der Frühling,
Der so frisch um die Eltern blüht.

Daß das heutige Fest oft noch zurückekehrt,
Eh den Weinenden sich ungern die Mutter raubt
Und auf nächtlichen Pfaden
Folgt dem Führer ins Vaterland –

Daß der Zauber nicht weicht, welcher das Band beglückt
Eures Bundes – und daß auch die Entfernteren
Des genießen, und wandern
Einen fröhlichen Weg mit Euch –

Dieses wünschet der Gast – aber der Dichter sagts
Euch für ihn; denn er schweigt gern, wenn er freudig ist,
Und er sehnet so eben
Seine fernen Geliebten her.

Bleibt dem Fremdlinge hold – spärliche Freuden sind
Ihm hienieden gezählt – doch bei so freundlichen
Menschen sieht er geduldig
Nach dem großen Geburtstag hin.


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Gedichte Der Fremdling - Novalis