Gedichte Wiegenlied einer polnischen Mutter

(7. November 1831)

Schlaf ein, du weißt ja nicht, o Herz,
Warum du weinst;
Schlaf ein, ich will den wahren Schmerz
Dich lehren einst.

Schlaf ein, o Herz, was kümmert dich
Der Feinde Sieg?
Dein Vater fiel für dich und mich
Im Heldenkrieg.

Dich wird erziehn dereinst der Zar
Zur Sklaverei:
Doch als ich dich, o Kind, gebar,
War Polen frei.

O weh des Fluchs, der, teures Land,
Dich jetzt ergreift!
Es wird bereits durch Polenhand
Die Stadt geschleift.

Mit Schaufeln naht dem Wall sich schon
Der Männer Gang;
Sie murmeln sacht, mit halbem Ton
Den Rachgesang.

O großer Gott, mißhöre nicht
Den leisen Chor,
Und rufe laut vor dein Gericht
Den Würger vor!

Es zehre Krieg und Pestilenz
An seinem Reich,
Ihm scheine freudenlos der Lenz,
Die Rose bleich!

Das eigne Weib gewähre nie
Ihm sein Gesuch,
Und aus dem Bett verjage sie
Der Blutgeruch!

Und wenn sich je sein falscher Mund
Verzieht und lacht,
Tu ihm der Geist die Waisen kund,
Die er gemacht!

Und träumt er sich ein leichtes Ziel
Auf glatter Bahn,
So denk er, wie sein Vater fiel
Und wie sein Ahn!

Und stirbt er auch, empfind er doch
Der Hölle Graus:
Meineidigen wächst der Finger noch
Zum Grab heraus.

Was wir begehrten, war ja nur,
Was uns gehört,
Was jener Mann sogar beschwur,
Der uns zerstört.

Gott gab, so rühmt er, ihm das Reich,
Das kühn er lenkt;
Oh, hätte Gott ihm auch zugleich
Ein Herz geschenkt!

Und du, o Säugling, atme leis
Im Schoß der Schmach,
Ahm aber einst im Männerkreis
Dem Vater nach!

Du werdest noch der Stolz der Fraun,
Des Landes Zier,
Um einst die Tatzen abzuhaun
Dem Tigertier!

Schlaf ein, du weißt ja nicht, o Herz,
Warum du weinst;
Schlaf ein, ich will den wahren Schmerz
Dich lehren einst!


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