Gedichte Der Adler auf dem Mäuseturm

Auf weißer Flagge weht ein Aar
Hoch auf dem Mäuseturm bei Bingen;
Er zeigt ein tüchtig Klauenpaar,
Trägt eine Kron‘ und reckt die Schwingen.
Vom Sonnebrand und Schnee und Sturm
Sind ihm die Federn glatt geschlichtet –
Was Teufel, in den Mäuseturm,
O Adler, hast du dich geflüchtet?

Hast du aus deiner Fülle Horn
Etwa gleich Hatto, jenem Alten,
Zu Mehl und Brot das teure Korn
Dem Mund des Volkes vorenthalten?
Will dir ein rächend Mäuseheer,
Wie jenem Bischof einst, ans Leben?
Gereicht auch dir zu Schutz und Wehr
Hattos zerfallne Trümmer eben?

Nicht doch! du geizest nicht mit Brot!
Jüngst noch, bei ew’gem Sommerregen,
Hast du geöffnet unsrer Not
All deiner Vorrathshäuser Segen!
Du ließest Hunsrück, Eifel, Ahr
Brotkorn, soviel sie brauchten, fassen;
Du hast auch sonst manch schlechtes Jahr
Vom Most die Steuer uns erlassen!

Drum nicht als Wucherer am Rhein
Flohst du auf jene Mauerkronen!
Doch: – Brot aus Korne nicht allein
Begehren heut die Nationen!
Sie wollen mehr, als was man kaut;
Sie heben dreist den kräft’gen Nacken;
Sie sehn sich um und rufen laut:
„Wo wird der Freiheit Brot gebacken?“

Das Brot nun freilich, guter Aar,
Hältst du mit allzu festen Krallen;
Wohl ließest du auch – wahr bleibt wahr! –
Von Freiheit jüngst ein Wörtchen fallen!
Es schien des Volkes Hungerschrei
Recht in der Seele zu kränken;
Du schienst an eine Bäckerei
Von Freiheitsbrot im Ernst zu denken!

Du schienst – ja doch, es war nur Schein!
O Aar, du bist ein karger Reicher!
Wie schnell die Segel zogst du ein,
Wie schnell verschlossest du die Speicher!
Du gabst – doch gleich auch nahmst du – schier,
Um unsern Hunger noch zu schärfen;
Um doppeltheiße Qual und Gier
In unser lechzend Herz zu werfen!

O, flieg nicht fort auf solcher Bahn!
Brot für den Geist! o, woll‘ es brechen!
Gib. gib! Es könnte Mäusezahn
Auch diese Brotverweigrung rächen!
O, nimm die Sache nicht zu leicht!
Und hättest du die Macht von Greifen –
Es wagte dennoch sich vielleicht
An deinen Horst ein strafend Pfeifen!

Drum sei gedenk und auf der Hut!
Mag Hatto warnen dich und führen!
Der sagte auch: „An meinen Hut
Lass‘ keines Menschen Hand ich rühren!“
Ja doch, was half ihm sein Gepoch‘?
Wozu war ihm sein Hochmut nütze?
Es fraßen ihn die Mäuse doch –
Ihn selbst zusamt der Bischofsmütze!
Asmannshausen, Mai 1844.


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