Gedichte Für eine Freundin

Geschrieben am 31. Oktober,
1. und 2. November 1908 in Paris

Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
Und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
So rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
So anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst
Zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst
An etwas stoßen, daß es klingt von dir
Und dich verrät. O nimm mir nicht, was ich
Langsam erlern. Ich habe recht; du irrst
Wenn du gerührt zu irgend einem Ding
Ein Heimweh hast. Wir wandeln dieses um;
Es ist nicht hier, wir spiegeln es herein
Aus unserm Sein, sobald wir es erkennen.

Ich glaubte dich viel weiter. Mich verwirrts,
Daß du gerade irrst und kommst, die mehr
Verwandelt hat als irgend eine Frau.
Daß wir erschraken, da du starbst, nein, daß
Dein starker Tod uns dunkel unterbrach,
Das Bisdahin abreißend vom Seither:
Das geht uns an; das einzuordnen wird
Die Arbeit sein, die wir mit allem tun.
Doch daß du selbst erschrakst und auch noch jetzt
Den Schrecken hast, wo Schrecken nicht mehr gilt;
Daß du von deiner Ewigkeit ein Stück
Verlierst und hier hereintrittst, Freundin, hier,
Wo alles noch nicht ist; daß du zerstreut,
Zum ersten Mal im All zerstreut und halb,
Den Aufgang der unendlichen Naturen
Nicht so ergriffst wie hier ein jedes Ding;
Daß aus dem Kreislauf, der dich schon empfing,
Die stumme Schwerkraft irgend einer Unruh
Dich niederzieht zur abgezählten Zeit -:
Dies weckt mich nachts oft wie ein Dieb, der einbricht.
Und dürft ich sagen, daß du nur geruhst,
Daß du aus Großmut kommst, aus Überfülle,
Weil du so sicher bist, so in dir selbst,
Daß du herumgehst wie ein Kind, nicht bange
Vor Örtern, wo man einem etwas tut -:
Doch nein: du bittest. Dieses geht mir so
Bis ins Gebein und querrt wie eine Säge.
Ein Vorwurf, den du trügest als Gespenst,
Nachtrügest mir, wenn ich mich nachts zurückzieh
In meine Lunge, in die Eingeweide,
In meines Herzens letzte ärmste Kammer, –
Ein solcher Vorwurf wäre nicht so grausam,
Wie dieses Bitten ist. Was bittest du?
Sag, soll ich reisen? Hast du irgendwo
Ein Ding zurückgelassen, das sich quält
Und das dir nachwill? Soll ich in ein Land,
Das du nicht sahst, obwohl es dir verwandt
War wie die andre Hälfte deiner Sinne?

Ich will auf seinen Flüssen fahren, will
An Land gehn und nach alten Sitten fragen,
Will mit den Frauen in den Türen sprechen
Und zusehn, wenn sie ihre Kinder rufen.
Ich will mir merken, wie sie dort die Landschaft
Umnehmen draußen bei der alten Arbeit
Der Wiesen und der Felder; will begehren,
Vor ihren König hingeführt zu sein,
Und will die Priester durch Bestechung reizen,
Daß sie mich legen vor das stärkste Standbild
Und fortgehn und die Tempeltore schließen.
Dann aber will ich, wenn ich vieles weiß,
Einfach die Tiere anschaun, daß ein Etwas
Von ihrer Wendung mir in die Gelenke
Herübergleitet; will ein kurzes Dasein
In ihren Augen haben, die mich halten
Und langsam lassen, ruhig, ohne Urteil.
Ich will mir von den Gärtnern viele Blumen
Hersagen lassen, daß ich in den Scherben
Der schönen Eigennamen einen Rest
Herüberbringe von den hundert Düften.
Und Früchte will ich kaufen, Früchte, drin
Das Land noch einmal ist, bis an den Himmel.

Denn Das verstandest du: die vollen Früchte.
Die legtest du auf Schalen vor dich hin
Und wogst mit Farben ihre Schwere auf.
Und so wie Früchte sahst du auch die Fraun
Und sahst die Kinder so, von innen her
Getrieben in die Formen ihres Daseins.
Und sahst dich selbst zuletzt wie eine Frucht,
Nahmst dich heraus aus deinen Kleidern, trugst
Dich vor den Spiegel, ließest dich hinein
Bis auf dein Schauen; das blieb groß davor
Und sagte nicht: das bin ich; nein: dies ist.
So ohne Neugier war zuletzt dein Schaun
Und so besitzlos, von so wahrer Armut,
Daß es dich selbst nicht mehr begehrte: heilig.
So will ich dich behalten, wie du dich
Hinstelltest in den Spiegel, tief hinein
Und fort von allem. Warum kommst du anders?
Was widerrufst du dich? Was willst du mir
Einreden, daß in jenen Bernsteinkugeln
Um deinen Hals noch etwas Schwere war
Von jener Schwere, wie sie nie im Jenseits
Beruhigter Bilder ist; was zeigst du mir
In deiner Haltung eine böse Ahnung;
Was heißt dich die Konturen deines Leibes
Auslegen wie die Linien einer Hand,
Daß ich sie nicht mehr sehn kann ohne Schicksal?

Komm her ins Kerzenlicht. Ich bin nicht bang,
Die Toten anzuschauen. Wenn sie kommen,
So haben sie ein Recht, in unserm Blick
Sich aufzuhalten, wie die andern Dinge.

Komm her; wir wollen eine Weile still sein.
Sieh diese Rose an auf meinem Schreibtisch;
Ist nicht das Licht um sie genau so zaghaft
Wie über dir: sie dürfte auch nicht hier sein.
Im Garten draußen, unvermischt mit mir,
Hatte sie bleiben müssen oder hingehn, –
Nun währt sie so: was ist ihr mein Bewußtsein?

Erschrick nicht, wenn ich jetzt begreife, ach,
Da steigt es in mir auf: ich kann nicht anders,
Ich muß begreifen, und wenn ich dran stürbe.
Begreifen, daß du hier bist. Ich begreife.
Ganz wie ein Blinder rings ein Ding begreift,
Fühl ich dein Los und weiß ihm keinen Namen.
Laß uns zusammen klagen, daß dich einer
Aus deinem Spiegel nahm. Kannst du noch weinen?
Du kannst nicht. Deiner Tränen Kraft und Andrang
Hast du verwandelt in dein reifes Anschaun
[und warst dabei, jeglichen Saft in dir
So umzusetzen in ein starkes Dasein,
Das steigt und kreist, im Gleichgewicht und blindlings.
Da riß ein Zufall dich, dein letzter Zufall
Riß dich zurück aus deinem fernsten Fortschritt
In eine Welt zurück, wo Säfte wollen.
Riß dich nicht ganz; riß nur ein Stück zuerst,
Doch als um dieses Stück von Tag zu Tag
Die Wirklichkeit so zunahm, daß es schwer ward,
Da brauchtest du dich ganz: da gingst du hin
Und brachst in Brocken dich aus dem Gesetz
Mühsam heraus, weil du dich brauchtest.
Da trugst du dich ab und grubst aus deines Herzens
Nachtwarmem Erdreich die noch grünen Samen,
Daraus dein Tod aufkeimen sollte: deiner,
Dein eigner Tod zu deinem eignen Leben.
Und aßest sie, die Körner deines Todes,
Wie alle andern, aßest seine Körner,
Und hattest Nachgeschmack in dir von Süße,
Die du nicht meintest, hattest süße Lippen,
Du: die schon innen in den Sinnen süß war.

O laß uns klagen. Weißt du, wie dein Blut
Aus einem Kreisen ohnegleichen zögernd
Und ungern wiederkam, da du es abriefst?
Wie es verwirrt des Leibes kleinen Kreislauf
Noch einmal aufnahm; wie es voller Mißtraun
Und Staunen eintrat in den Mutterkuchen
Und von dem weiten Rückweg plötzlich müd war.
Du triebst es an, du stießest es nach vorn,
Du zerrtest es zur Feuerstelle, wie
Man eine Herde Tiere zerrt zum Opfer;
Und wolltest noch, es sollte dabei froh sein.
Und du erzwangst es schließlich: es war froh
Und lief herbei und gab sich hin. Dir schien,
Weil du gewohnt warst an die andern Maße,
Es wäre nur für eine Weile; aber
Nun warst du in der Zeit, und Zeit ist lang.
Und Zeit geht hin, und Zeit nimmt zu, und Zeit
Ist wie ein Rückfall einer langen Krankheit.

Wie war dein Leben kurz, wenn du’s vergleichst
Mit jenen Stunden, da du saßest und
Die vielen Kräfte deiner vielen Zukunft
Schweigend herabbogst zu dem neuen Kindkeim,
Der wieder Schicksal war. O wehe Arbeit.
O Arbeit über alle Kraft. Du tatest
Sie Tag für Tag, du schlepptest dich zu ihr
Und zogst den schönen Einschlag aus dem Webstuhl
Und brauchtest alle deine Fäden anders.
Und endlich hattest du noch Mut zum Fest.

Denn da’s getan war, wolltest du belohnt sein,
Wie Kinder, wenn sie bittersüßen Tee
Getrunken haben, der vielleicht gesund macht.
So lohntest du dich: denn von jedem andern
Warst du zu weit, auch jetzt noch; keiner hätte
Ausdenken können, welcher Lohn dir wohltut.
Du wußtest es. Du saßest auf im Kindbett,
Und vor dir stand ein Spiegel, der dir alles
Ganz wiedergab. Nun war das alles Du
Und ganz davor, und drinnen war nur Täuschung,
Die schöne Täuschung jeder Frau, die gern
Schmuck umnimmt und das Haar kämmt und verändert.

So starbst du, wie die Frauen früher starben,
Altmodisch starbst du in dem warmen Hause
Den Tod der Wöchnerinnen, welche wieder
Sich schließen wollen und es nicht mehr können,
Weil jenes Dunkel, das sie mitgebaren,
Noch einmal wiederkommt und drängt und eintritt.

Ob man nicht dennoch hätte Klagefrauen
Auftreiben müssen? Weiber, welche weinen
Für Geld, und die man so bezahlen kann,
Daß sie die Nacht durch heulen, wenn es still wird.
Gebräuche her! wir haben nicht genug
Gebräuche. Alles geht und wird verredet.
So mußt du kommen, tot, und hier mit mir
Klagen nachholen. Hörst du, daß ich klage?
Ich möchte meine Stimme wie ein Tuch
Hinwerfen über deines Todes Scherben
Und zerrn an ihr, bis sie in Fetzen geht,
Und alles, was ich sage, müßte so
Zerlumpt in dieser Stimme gehn und frieren;
Blieb es beim Klagen. Doch jetzt klag ich an:
Den Einen nicht, der dich aus dir zurückzog,
(ich find ihn nicht heraus, er ist wie alle)
Doch alle klag ich in ihm an: den Mann.

Wenn irgendwo ein Kindgewesensein
Tief in mir aufsteigt, das ich noch nicht kenne,
Vielleicht das reinste Kindsein meiner Kindheit:
Ich wills nicht wissen. Einen Engel will
Ich daraus bilden ohne hinzusehn
Und will ihn werfen in die erste Reihe
Schreiender Engel, welche Gott erinnern.

Denn dieses Leiden dauert schon zu lang,
Und keiner kanns; es ist zu schwer für uns,
Das wirre Leiden von der falschen Liebe,
Die, bauend auf Verjährung wie Gewohnheit,
Ein Recht sich nennt und wuchert aus dem Unrecht.
Wo ist ein Mann, der Recht hat auf Besitz?
Wer kann besitzen, was sich selbst nicht hält,
Was sich von Zeit zu Zeit nur selig auffängt
Und wieder hinwirft wie ein Kind den Ball.
Sowenig wie der Feldherr eine Nike
Festhalten kann am Vorderbug des Schiffes,
Wenn das geheime Leichtsein ihrer Gottheit
Sie plötzlich weghebt in den hellen Meerwind:
So wenig kann einer von uns die Frau
Anrufen, die uns nicht mehr sieht und die
Auf einem schmalen Streifen ihres Daseins
Wie durch ein Wunder fortgeht, ohne Unfall:
Er hätte denn Beruf und Lust zur Schuld.

Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist:
Die Freiheit eines Lieben nicht vermehren
Um alle Freiheit, die man in sich aufbringt.
Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies:
Einander lassen; denn daß wir uns halten,
Das fallt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.

Bist du noch da? In welcher Ecke bist du? –
Du hast so viel gewußt von alledem
Und hast so viel gekonnt, da du so hingingst
Für alles offen, wie ein Tag, der anbricht.
Die Frauen leiden: lieben heißt allein sein,
Und Künstler ahnen manchmal in der Arbeit,
Daß sie verwandeln müssen, wo sie lieben.
Beides begannst du; beides ist in Dem,
Was jetzt ein Ruhm entstellt, der es dir fortnimmt.
Ach du warst weit von jedem Ruhm. Du warst
Unscheinbar; hattest leise deine Schönheit
Hineingenommen, wie man eine Fahne
Einzieht am grauen Morgen eines Werktags,
Und wolltest nichts, als eine lange Arbeit, –
Die nicht getan ist: dennoch nicht getan.

Wenn du noch da bist, wenn in diesem Dunkel
Noch eine Stelle ist, an der dein Geist
Empfindlich mitschwingt auf den flachen Schallwelln,
Die eine Stimme, einsam in der Nacht,
Aufregt in eines hohen Zimmers Strömung:
So hör mich: Hilf mir. Sieh, wir gleiten so,
Nicht wissend wann, zurück aus unserm Fortschritt
In irgendwas, was wir nicht meinen; drin
Wir uns verfangen wie in einem Traum
Und drin wir sterben, ohne zu erwachen.
Keiner ist weiter. Jedem, der sein Blut
Hinaufhob in ein Werk, das lange wird,
Kann es geschehen, daß ers nicht mehr hochhält
Und daß es geht nach seiner Schwere, wertlos.
Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft
Zwischen dem Leben und der großen Arbeit.
Daß ich sie einseh und sie sage: hilf mir.

Komm nicht zurück. Wenn du’s erträgst, so sei
Tot bei den Toten. Tote sind beschäftigt.
Doch hilf mir so, daß es dich nicht zerstreut,
Wie mir das Fernste manchmal hilft: in mir.


1 Star2 Stars3 Stars4 Stars5 Stars (1 votes, average: 5,00 out of 5)

Gedichte Für eine Freundin - Rilke