Gedichte Nebo

Auf Jordans grünen Borden,
Da weilte Jakobs Samen,
Da feierten die Horden,
Die von Mizraim kamen;
Da lagerten die Scharen,
Da hielt der Heerzug Rast,
Seit langen, langen Jahren
Der sandigen Wüste Gast.

Da legten ihre Stecken
Die Wandrer aus den Händen,
Und spreizten weiche Decken,
Entgürtend ihre Lenden.
Und auf den Decken reinlich,
Da lagen, bunt geschart,
Die Männer, schlank und bräunlich,
Mit schwarzgelocktem Bart.

Da waren ihre Hütten
Von Leinen aufgestellt,
Und in der Zelte Mitten
Hob sich des Stiftes Zelt.
Da schützten grüne Sträuche
Sie vor der Glut der Sonnen;
Da füllten sie die Schläuche
An kühlen Wasserbronnen.

Da salbten sie die Leiber,
Die staubigen, mit Öle;
Da striegelten die Treiber
Die dampfenden Kamele;
Da ruhte wiederkäuend
Im Grase Herd‘ an Herde;
Da flogen wild und scheuend
Die langgeschweiften Pferde.

Da freuten sich die Müden
Und hoben fromm die Hände,
Daß ihnen bald beschieden
Der langen Wallfahrt Ende;
Da schärften sie die Schneide
Des Schwerts mit kräft’ger Hand,
Zu kämpfen um grüne Weide
In ihrer Väter Land,

Das ihrer schien zu warten
Am andern Bord des Flusses,
Ein lachender Gottesgarten,
Ein Land des Überflusses.
Auf ihren Wüstenzügen
Sahn sie es oft im Geist –
Jetzt sehn sie’s vor sich liegen,
Das Land, wo Milch und Honig fleußt.

Im Tal ruhn die Nomaden,
Und jauchzen: Kanaan! –
Ihr Haupt auf steilen Pfaden
Klimmt das Gebirg hinan.
Schneeweiße Locken fließen
Auf seine Schultern dicht;
Zwei goldne Strahlen schießen
Aus Mosis Haupte licht.

Und wie er nun die Höhe,
Die schauende, erreicht,
Und, daß er alles sehe,
Sich zitternd vorwärts beugt:
Da glänzen ihm die Auen,
Von tausend Freuden voll,
Die er nur sehnend schauen,
Doch nicht betreten soll.

Da dehnen sich die Flächen,
Wo Korn und Traube reift;
Da ist mit weißen Bächen
Das grüne Land gestreift;
Da schwärmen Bienenkörbe,
Da wiehert Pfluggespann;
Da funkelt Judas Erbe
Von Berseba gen Dan.

„Ich habe dich gesehen!
Jetzt ist der Tod mir recht!
Säuselnd mit leisem Wehen,
Herr! hole deinen Knecht!“
Da naht auf lichter Wolke
Der Herr des Berges Rücken,
Dem müden Pilgervolke
Den Führer zu entrücken. –

Auf einem Berge sterben,
Wohl muß das köstlich sein!
Wo sich die Wolken färben
Im Morgensonnenschein.
Tief unten der Welt Gewimmel,
Forst, Flur und Stromeslauf,
Und oben tut der Himmel
Die goldnen Pforten auf.


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