Gedichte Im Spiegel

Ich sehe in den Spiegel.
Was für ein unverschämter Blick mustert mich?
Jetzt zieht er sich schon in sich selbst zurück –
Pardon: ich habe mich fixiert.
Ich will mir nicht zu nahe treten.

Meine Freunde kann ich mir an den Fingern einer Hand abzählen.
Für meine Feinde brauch ich schon eine Rechenmaschine.
Was bedeuten diese tiefen Furchen auf meiner Stirn?
Ich werde Kresse und Vergißmeinnicht drein säen.

Im Berliner botanischen Garten, sah ich einen Negerschädel,
Aus dem eine Orchidee sproß.
So vornehm wollen wir’s gar nicht machen.
Bei uns genügt auch ein schlichtes deutsches Feldgewächs.

Wir wollen durch die Blume zu den Überlebenden sprechen,
Wie wir so oft zu den nunmehr verwesten sprachen.
Also, meine liebe Leibfüchsin:
Du kommst mir deine Blume – Prost! Blume!

Ich stehe nicht mehr ganz fest auf den Füßen.
Der Spiegel zittert.
Seine Oberfläche kräuselt sich, weil ich lache.
Da ist der Mond – er tritt aus dem Spiegel in feuriger Rüstung
Und legt seine weiße kühle Hand auf meine fieberheiße Stirn.


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