Gedichte Gnôthi sauton

Da steh ich nun, ich armer Thor,
Und bin so klug, als wie zuvor!
Faust

Mitternacht war’s.
Auf den glitschrigen Asphalt
Plätscherte der Novemberregen
Und, windgepeitscht, flackerte rothgelb
Durch den Nebeldunst das Licht der Laternen.
Nur hie und da noch humpelte schwerfällig
Durch die dunklen Gassen der träumenden Weltstadt
Ein schläfriger Droschkengaul
Und vor der Hausthür, hart unter meinem Fenster,
Stand, wie immer um diese Stunde,
So auch heute, mein Stubennachbar,
Der neugebackene Referendar,
Und deklamirte höchst gefühlvoll,
Mit seinem Stöckchen die Luft durchfuchtelnd
Und das Schlüsselloch immer vergeblich suchend,
Den Monolog der Schillerschen Jungfrau.
Von drüben über die Strasse her
Blitzten die Spiegelscheiben des Wiener Cafés,
Und hinter den zierlichen Marmortischchen,
Auf die rothen Sammetpolster
Coquettirend hingegossen,
Bot sich den alten und jungen Roués
Schamlos feil die geschminkte Sünde,
Theelöffelklappernd!
Ach, und draussen fuhr pflichtgetreu
Ein bärtiger Schutzmann ein kleines Mädchen an,
Das seine Händchen, vor Kälte zitternd,
In sein zerrissenes Schürzchen gerollt hielt
Und bitterlich weinend
Zündhölzchen ausbot!!

Mitternacht war’s.
In Büchern vergraben
Sass ich am Schreibtisch und schrieb.
Zu meiner Linken, dem Herzen am nächsten,
Gähnte lauernd der lahme Papierkorb
Und rechts, neben Byron und Victor Hugo,
Dampfte die Wasserpfeife.
Vom Ofen her, warm und gemüthlich,
Zog durch das Zimmer ein brauner Kaffeeduft
Und an den weissen Kalk der Decke
Malte die Lampe ihr zitterndes Goldlicht.
Alles still – mäuschenstill!
Nur die Schwarzwälder Wanduhr nickte ihr Tiktak
Und eilig kratzte meine Feder
Ueber das gelbliche Manuscript.
Rhythmisch reihte sich Vers an Vers an
Und schneller rollte mein Blut
Von Strophe zu Strophe,
Ungestüm wie ein Katarakt,
Der sich durch die Gewitternacht
Wild übers Wehr stürzt;
Denn um mich webte,
Gestaltlos und dunkel,
Ein faustisches Etwas
Und blies mir ins Ohr
Wort auf Wort.

Und neue Gedanken, nie gedachte,
Wuchsen gigantisch aus meinem Gehirn auf
In nie erforschte Zeiten und Zonen
Tauchten sie wahrheitssuchend hinab,
Wie die farbigen Taucher ins indische Meer
Perlenfischend.
Mit Erden und Sonnen spielten sie Fangball
Und Völkern und Königen raubten sie
Hohnlachend die goldenen Kronen,
Die die kalte Berechnung
Einer herzverkrüppelten Selbstsucht
Der armen, blutiggegeisselten Menschheit,
Der göttlichen Dulderin, schlangenklug
Als Fetische neben den Brotkorb gehangen,
Jahrhundertelang!
Und die also Entthronten,
Aus ihrer wahnwitzigen Selbstherrlichkeit
Jählings aufgeschreckt, bäumten sich auf
Und aus den Kehlen
Der Wehgefolterten, Qualverzerrten,
Rang sich, schauerlich gurgelnd,
Der wilde Angstruf:
„Das jüngste Gericht“
Millionenfach!

Auf der rauchenden Brandstatt
Verkohlter, sündiger Paläste
Schlang sich fluchend
Um seinen pestgeschwollenen Leichnam
Der letzte Bettler den letzten Purpur,
Blutgefärbt;
Und von dem braunen,
Gluthgeborstenen Stein von Golgatha
Warf sich vernichtungstoll
Kopfüber hinab
Ins bodenlose, gähnende Nichts
Das wurmzerfressene, hölzerne Kreuz,
Dornenumwunden.
Und niemand mehr kannte den Rabbi von Nazareth!

Der Mond verdunkelt sich,
Durch den schwarzen Abgrund des Raums,
Hin und her wie ein Windlicht,
Flackerte entseelt der Polarstern
Und durch den wehenden Schweif der Kometen
Blitzten farbig die Meteore.
Sündfluth und Weltbrand brachen zugleich herein
Und Nacht und Licht, Ormudz und Ahriman,
Kämpften noch einmal
Mit alter Kraft den alten Kampf
Um die endliche, ewige Herrschaft.
Aber die Menschheit, die ringende Menschheit,
Athmete auf – zum ersten Mal!
Denn auch sie, ja auch sie, rüstete endlich
Den letzten, grossen, den heiligen Krieg,
Den sie schon Jahrtausende lang
So heiss ersehnt hatte!

Oben, hoch oben,
Auf den lichten, sagenumwobenen,
Heiligen Bergen,
Das Haupt gen Westen,
Knieten ihre Führer,
Die Weisen des Abendlandes,
Und rangen qualvoll
In heissen, brünstigen Gebeten,
Wie weiland Israel in der Wüste,
Oben, hoch oben!
Und unten, tief unten,
Durch die dunklen, wipfelverschatteten,
Grünen Thäler
Wälzte sich stromgleich die heilige Phalanx
Der gottentflammten, ölgesalbten,
Todgeweihten Streiter,
Stumm und erwartungsbleich,
Eine neue Völkerwandrung.
Ihr blutrothes Banner,
Umblitzt von tausend nackten Schwertern,
Spiegelte die aufgehende Sonne wieder,
Noch einmal küsste sich
Mutter und Kind, Vater und Sohn
Und feierlich fluthete durch alle Himmel
Ihr heiliger Hymnus:
Excelsior!
Herzerschütternd, seelenergreifend,
Unten, tief unten!

Aber droben im siebenten Himmel
Thronte noch immer auf seinem goldnen,
Bluttriefenden Stuhl
Der gealterte Judengott, kalt wie ein Steinbild,
Und all der Jammer, der unsägliche Jammer,
Der aus dem armen, wehgemarterten
Herzen der Menschheit, äonenlang
Blut gesaugt wie ein Vampyr:
O, der war spurlos an ihm vorübergegangen,
Denn der alte Mann war kindisch geworden
Und liess sich selbstgefällig
Von seinen sogenannten Engeln
– Kleinen, abgeschnittenen Kinderköpfchen
Mit Flügeln hinter den Ohren! –
Lügengeschwollene Phrasen drehn,
Bis er, hohl wie ein kleiner, menschlicher Geck,
Heimlich mit dem Spiegel coquettirte
Und sich schliesslich einbildete:
Er wäre wirklich allgütig!

Ach, und er ahnte nicht,
Wie sein kahlglatziger Generalstab,
Die allmählig
Aus Erdenpriestern zu Himmelspfaffen
Avancirten Nachfolger Petri,
Feiste Silengesichter,
Hinter seinem Rücken
Schadenfroh sich ins Fäustchen lachten
Und wie ungezogene Schulbuben
Ihm Nasen drehten und Männchen machten!
Und so war denn nun der einst so allmächtige
Schöpfer des Himmels und der Erde
Ein närrischer Popanz geworden,
Eine lächerliche, nichtswürdige Karrikatur
Auf den altmexikanischen
Vitzliputzli!

O, es war fürchterlich!
Unten auf Erden,
Aufgewühlt bis in die innersten Tiefen ihrer Seele,
Die ringende Menschheit, eine tragische Heldin,
Die endlich nach jahrmyriadenlangem,
Wildem Ringen
Von ihrem eigenen, dunklen Sein
Den geheimnissvollen Isisschleier heben sollte,
Und hier oben im Himmel
Ein fühlloser Selbstling, dem der Weihrauch
Eines kleinen Häufleins
Alter, verrückter Betschwestern
Das Hirn umnebelt hatte!

Aber die Liebe, die ewige Liebe,
Die Allerbarmerin,
Sah es und weinte laut auf
Und an ihr grosses, feuriges Sonnenherz
Presste sie wild ihre schöne, süsse Tochter,
Das Mitleid,
Und beide traten, hochaufathmend,
Vor den Thron des Alten,
Der so alt war, dass er sich selbst nicht mehr kannte,
Und die Mutter sprach:

„Soll Dich denn nichts
Aus Deinem wüsten, hässlichen Halbschlaf
Aufrütteln, Du alter Mann?
Hat Dich die einstige siebentägige Schöpfungsarbeit
Denn wirklich schon erschlafft?
Und willst Du nun ewig
Auf Deinem Faulbett thatlos herumlungern?
Geh in Dich, Alter, geh in Dich und lass Dir
Das brünstige, äonenaltrige,
Nie erschlaffte Ringen der Menschheit,
Deines verstossenen Stiefkindes,
Nacht, Licht und Wahrheit
Das Roth der Scham ins Gesicht treiben!
O, schau hinab!
Dort unten auf deiner altgewordenen Erde
Ringt nun die Herrliche
Im letzten Kampfe, im Todeskampfe;
Und glaube mir, Vater, sie verröchelt
Und Millionen Weltmeere
Voll bitterer, blutiger Thränen
Sind umsonst geweint,
Wenn Du ihr nicht hilfst!
Doch Du wirst ihr helfen!
Denn einmal schon
Warst Du taub für mein Flehn
Und liessest es zu,
Dass ein thörichtes Volk von Pharisäern
Den bleichen Zimmermann aus Nazareth,
Deinen eigenen Sohn! ans Kreuz nagelte
Ich aber sass, Dich heimlich verfluchend,
Nachts auf dem Oelberg,
In meinen Thränen spiegelten sich,
Wehmütig zitternd,
Die tausend Sterne der syrischen Mondnacht
Und die frommen Dichter des Evangeliums
Nannten mich später: Maria Magdalena!
Nein, Vater, nein!
Du darfst es nicht wagen,
Du wirst es nicht wagen,
Mir wieder zu trotzen
Und so nicht nur meinen Fluch,
Nein, auch den der Menschheit,
Einer ganzen Welt,
Dir aufs Haupt zu lasten,
Kalt und gefühllos!
Und so wirf ihn denn von Dir
Den bunten, lächerlichen Flitterkram,
Mit dem Jahrmarktsnarren und Brotkorbschurken
Dich schlau behängt:
Sei wieder Du
Und schleudre noch einmal
Aus der herrlichen Fülle Deiner Allmacht
Durch Deine sieben mal siebenzig Himmel
Dein erstes, grosses,
Heiliges Schöpfungswort!“

So sprach die Liebe, die ewige Liebe,
Die Allerbarmerin,
Und warf sich nieder in den Staub des Himmels
Vor die Füsse ihres grossen Vaters
Und das Mitleid, ihre schöne, süsse Tochter,
Faltete flehend ihre zarten, weissen Hände
Und stammelte schluchzend: Erbarmen, Erbarmen!

Da fuhr’s wie ein Blitz durch das blutlose Steinbild
Und die frömmelnd gefaltete Riesenfaust,
Die einst in nebelgrauer Vorzeit
Die Hand des Prometheus gelenkt
Und aus Thon Menschen geformt,
Ballte sich wieder und schlug
An die immer noch weltenschwangere Stirn
Und der alte, zornige Jude
Wurde weich wie ein Kind!
Denn er fühlte, wie sein Herz,
Tief in pochender Brust,
Wieder wonnig zu schlagen anhub
Und eine wilde, verzehrende Sehnsucht
Fiel ihn an,
Eine Sehnsucht nach jener alten, schönen Zeit,
Als er selber noch jung war
Und die Welt, die träumende Welt,
In das bläuliche Dämmerlicht der Urzeit
Süss hineinduftete,
Zitternd und thaufrisch,
Wie eine jungerblühte, rothe Maienrose!

Und zornentbrannt
Riss er die weihrauchduftende Schellenkappe,
Die der hirnvernagelte Aberwitz
Der letzten dunklen Jahrhunderte
Ihm frech übers Ohr gestülpt,
Aus seinen silberfluthenden Locken
Und warf sie nieder und trat sie mit Füssen!
Die blauen Kinderaugen
Der ängstlich den Raum durchflatternden Engel
Verglasten und brachen;
Die himmlische Parasitengarde
Der Heiligen und Kirchenväter
Flüchtete watschelnd,
Laut aufheulend und sich bekreuzigend,
Von Wolke zu Wolke;
Ein Fusstritt schleuderte Petrus,
Den feist gewordenen Himmelspförtner,
Auf die Erde hinab, ins todte Meer
Und millionenzüngig, wonnetriefend,
Von Stern zu Stern, von Welt zu Welt,
Rollte wieder das alte, uralte,
Heilige Evangelium:
Gott ist Gott!

Er aber legte lächelnd der Liebe,
Der ewigen Liebe,
Segnend die Hand aufs Haupt
Und aus dem wehenden,
Schwarz verkohlten Lügenschutt
Längst gewogener, wüster Jahrhunderte,
Umflattert von den letzten, phantastischen Fetzen
Seines eingestürzten, christlichen Thronhimmels,
Zuckte sein Wort, roth wie ein Blitz:
Es werde Licht!
Weinend tauschte tiefunten auf Erden
Beim ersten Aufblitz des ewigen Frühlichts
Die versöhnte Menschheit
Herz an Herz
Den ersten heiligen Bruderkuss
Und lächelnd entrang sich dem dunklen Chaos,
Von ihrer eigenen, wonnigen Schönheit
Süss erschreckt, eine neue Welt,
Die Welt der Verheissung!. ….

O wie das Herz mir schlug!
In zorndurchloderten, wilden Rhythmen,
Kraftvoll gegliedert,
Standen sie da meine feurigen Strophen,
Glorreich und todverachtend,
Wie weiland das Häuflein der dreihundert Sparter
In den Schluchten der Thermopylen.
Und ich las es noch einmal,
Was ich niedergeschrieben mit meinem Herzblut!
Und wieder dann dacht ich, lautauf grollend,
Wie noch immer
Auf dieser ruhlos wandernden Erde
Das Elend, unser ältestes Hausthier,
Augenrollend und zähnefletschend,
Um Paläste und Hütten schleicht,
Tag und Nacht!
Und wie die Menschheit, dies arme Findelkind,
Das die Mutter nicht kennt und den Vater verflucht,
Trotz Zerduscht und Buddha, Christus und Muhamed,
Noch so weit vom Ziel,
Noch so weit, o so weit!

Müssen nicht immer noch tausend Fäuste,
Harte, schwielenbedeckte Fäuste,
Sich vom Munde das Brot abdarben,
Das schwarze Brot,
Um einem einzigen dummfaulen Tagedieb
Den gefrässigen Schmeerbauch zu mästen,
„Standesgemäss“
Mit Krebshirn und Nachtigallzungen?
Zwingt nicht das Gold,
Dieser herzloseste aller Teufel,
Die Schönheit, die arme, rührende Schönheit,
Noch immer in das dumpfe,
Seuchenverpestete Lustbett der Sünde?
Leckt nicht das Volk,
Die gezähmte, schweifwedelnde Bestie,
Noch immer die bluttriefende Hand
Ihres gekrönten Peinigers?
Und muss sich die Wahrheit, die bleiche Dulderin,
Nicht immer noch
Aus dem hölzernen Betstuhl der Kirche
Querhin über den pfennigfeilschenden Markt
Durch Seitengässchen und Hinterpförtchen
Nachts in das lampenerhellte Stübchen
Der Dichter und Denker flüchten,
Flüchten vor dem lauernden Schlangenblick
Der kahlgeschorenen, glattrasirten
Priester der Liebe?

Und doch! Und doch!
Durchblättre das grosse, heilige Buch der Geschichte,
Und du speist dir selbst in dein Lügengesicht,
Wenn du, Schwächling, die Lästrung wagst:
Alles ist eitel! Die Welt dreht sich rückwärts!
Zwar die Bronceschwerter der Urzeit
Sind nur die Ahnen ihrer Enkel gewesen,
Der schlanken, stählernen Klingen der Neuzeit,
Denn Ares, der Kriegsgott,
Schüttelt sein schlangenlockiges Haupt
Heut noch so wild wie zur Zeit des Homer.
Doch wo sperrt noch heut
Der assyrische Moloch der heidnischen Vorzeit
Seinen feuerspeienden Rachen
Hungrig nach Menschenfleisch auf?
Wer schnürt wohl heut noch ein triefäugiges Weib,
Blos weil es triefäugig ist,
An den mittelalterlichen Brandpfahl?
Und hat nicht erst gestern,
Drüben über dem grossen Weltmeer,
Der schwarze Mann die Kette zerbrochen,
Die ihm jahrtausendelang um den Knöchel geklirrt?
Und haben ihm seine weissen Brüder
Nicht treulich geholfen?
Ist es von jenem ausgehöhlten Baumstamm,
Der einst vor grauen Jahren
Längs der felsigen Küste Phöniciens
Ueber das Mittelmeer schwamm,
Bis zum Great Eastern,
Dem eisengeschuppten Riesendelphin,
Denn nicht mehr als ein Schritt?
Sind die sonnigen, griechischen Märchen
Des Blinden von Chios etwa göttlicher,
Als das dunkle, deutsche Mysterium
Vom Doctor Faust?
Und haben die Weisen der neuen Zeit,
Keppler und Humboldt, Newton und Darwin,
Der Welt denn nicht tiefer ins Herz geschaut,
Als der griechische Aristoteles,
Oder sein Schüler, der römische Plinius?

So sass ich und sann ich.
Wild schlug mein Puls,
Meine Wangen glühten
Und heiss wie im Fieber
Pochten und hämmerten meine Schläfen.
Mein Hirn war der Aetna
Und seine Gedanken die Cyclopen!
An den weissen Kalk der Decke
Malte noch immer die grüne Lampe
Kreisrund ihr zitterndes Goldlicht,
Und die alte Schwarzwälder Wanduhr
Tickte ihr Tiktak, wie vordem.
Draussen in der dunklen, stillen Strasse
Warf der Regen
Seine letzten, schweren Tropfen
Plätschernd aufs Trottoir,
Um die ausgedrehten Laternen
Hatte der Nebel sich dichter gelagert
Und durch den feinen, weissen Schleier
Glotzte das stiller gewordne Café
Mit seinen grossen Fensteraugen
Phantastisch herüber,
Ein Rembrandtsches Helldunkel.
Ich aber achtet‘ es nicht
Und sprang auf vom Schreibtisch
Und durchmass, verschränkten Arms,
Mit grossen, schweren Schritten,
Hastig das Zimmer.
Der blonde Kopf der sixtinischen Göttin
Schaute aus seinem wurmstichigen Rahmen
Verwundert auf mich herab
Und lächelnd schüttelte
Auf seinem gelblichen Postament
Das Miniaturbild der Venus von Milo
Sein schönes, gipsverkittetes Haupt.
Ich aber stellte mich fest
Vor das wackelnde Bücherbrett hin
Und lehnte den Kopf an das weisse Thürgerüst
Und fühlte, wie mir das Herz bis hoch an den Hals schlug,
Und sprach:

„Nicht bleich und neidvoll
Schau ich Nachgeborner empor
Zu euch, ihr unsterblichen Kinder des Lichts,
Die ihr den Staub der Erbärmlichkeit
Verächtlich von den Füssen geschüttelt
Und auf Alpengipfel entrückt,
Von Wettern umblitzt
Und umrauscht von den Flügen der jungen Adler,
Aus euern grossen, goldenen Herzen
Jene erhabenen Werke geschöpft,
Die Millionen und Abermillionen
Lachen und Weinen, Lieben und Hoffen gelehrt;
Jene Werke, die nun – nach Jahrhunderten! –
In Bücher gedruckt und in Leder gebunden
Von jenen weissen, tannenen Brettern
Eure grossen, goldgedruckten,
Dreimal heiligen Namen
Mir mystisch ins Herz blitzen!

Ob ihr im Dämmergrau der Geschichte,
Getaucht in die weichen,
Bläulichen Schatten des Himalaya,
An den Ufern des heiligen Ganges,
Vedenentziffernd,
Unter den Palmen Indiens gewandelt;
Ob ihr, die Herzen von Hymnen geschwellt,
Auf die Nachtigallen von Hellas gelauscht
Und sinnend Veilchen gepflückt am Illyssos;
Ob ihr, umweht von dem Odem des Weltgeists,
Brütend durch euer Hirn gewälzt:
Himmel und Hölle,
Sein oder Nichtsein,
Mahom und Faust –
Am italischen Arno,
Am englischen Avon,
An der deutschen Ilm;
Stolz sprech ich’s aus: Ich beneid euch nicht!

Rauscht nicht noch immer das blaue Weltmeer,
Länderumrollend und inselgebärend,
Seinen alten, heiligen Psalm?
Träumt nicht noch immer der grüne Urwald,
Föhndurchharft und sternübersät,
Von den Wundern des ersten Schöpfungstages?
Und schlägt denn das grosse Herz der Menschheit
Heute nicht feuriger denn je?
Ist der gewaltige Tempelbau,
Zu dem einst der Schüler des Wiswamitra
Und der Sohn der Jungfrau Maria
Den Grund gelegt,
Denn schon vollendet?
Muss sich die Armuth, die ehrliche Armuth,
Nicht immer noch bücken,
Wenn ihr der Hochmuth, der reiche Hochmuth,
Mit der Peitsche über den Rücken knallt?
Lechzen nicht um mich noch tausend und abertausend
Dürstende Seelen hungernder Völker
Nach Licht und Freiheit?
Und braucht denn die Wahrheit, die ewige Wahrheit,
Nicht immer noch Zeugen,
Zeugen, die gesteinigt bluten
Und brechenden Herzens noch triumphiren können?

Und so heb ich denn hier,
Vor euch, ihr unsterblichen,
Heiligen Märtyrer,
Hoch meine Hand empor
Und gelobe feierlich:
Die Armen zu trösten,
Die Schwachen zu stärken,
Die Gefangenen zu lösen,
Die Geschlagenen zu rächen,
Die Wahrheit zu lieben,
Die Lüge zu hassen
Und meiner Kunst
Ein Priester zu sein
Mein Leben lang –
Und alles das:
Aus ganzem Herzen,
Aus ganzer Seele
Und aus ganzem Gemüthe!

Und ob sich mein Pfad auch durch Wüsten windet
Und unter dornenumkrochnem Gestein
Giftige Schlangen nach meiner Ferse züngeln,
Indess die Versuchung, die alte, graue Sünderin,
Mir dreifach ins Ohr raunt:
„Thor, der du bist! Denk nicht an Andre!
Denk an dich selber und schlage dich seitwärts!
Besser als Nachts auf freiem Feld,
Steingebettet und windbedeckt,
Ruht es sich unter dem schirmenden Dach
Der ragenden Burg, der hallenden Kirche
Und des schimmernden Palasts,“
Mein Weg sei gradaus!
Kein Gold soll mich blenden,
Kein Kreuz mich verdummen,
Kein Schwert mich erschrecken!
Ja!
Ein will ich stehn
Für Licht und Wahrheit,
Recht und Freiheit,
Opferfreudig und unentwegt,
Mit Herz und mit Hand, in Wort und in That!
Und will nur einmal eine Fiber meines Herzens
Untreu werden, untreu sich selbst,
Dann sei die Lippe verflucht, die mich küsst,
Das Herz, das mich lieb hat, breche in Stücke,
Und die Hand, die schurkisch den Schwur gebrochen,
Recke dereinst sich um Mitternacht
Aus meinem Grab ins Mondlicht empor
Und melde so stumm dem verstörten Wandrer:
„Hier ruht der Verfluchte!

Bebend rollten die dumpfen Worte von meinen Lippen,
Auf meinen Lidern lag es wie Blei
Und ich schleppte mich
Schwindelnden Kopfs an den Schreibtisch
Und warf mich dort
Erschöpft auf den Stuhl.
Da – plötzlich – legte sich riesenschwer
Auf meine müde, zitternde Schulter
Eine grosse, knochige Faust
Und vor mir stand,
Bleich und düster,
Eine markige, hochgegliederte Mannsgestalt
Und sah mich mit grossen, schwarzen Augen,
Die abgrundtief unter der hohen, weissen Stirn
Wie feurige Kohlen glühten,
Durchbohrend an.
Von den faltigen, malerischen Gewändern
Längst verschollner Jahrhunderte
Phantastisch behangen,
Schien er mir eins jener dunklen,
Räthselhaften Wesen,
Die, wie das Volk sich heimlich ins Ohr raunt,
Schon im Urbeginn der Zeiten
Mit ihrem Schöpfer vermessen gehadert;
Die beim flackernden Blutlicht menschlicher Brandfackeln
Die Grabkammern der ägyptischen Pyramiden
Zaubrisch mit Hieroglyphen bedeckt,
Und die fluchgepeitscht,
Ueberdauernd die gewaltigen Geschicke
Aller Völker und aller Zeiten,
Noch leben und athmen werden,
Wenn der letzte Mensch,
Müde des Seins und des goldenen Lichts,
Schon jahrhundertelang ins Grab gestiegen
Und die dunkle, todtenstarre Erde
Ihre wüste, ausgebrannte Schlacke
Eiskalt durchs Nichts wälzt.
Und schaudernd sah ich,
Wie das wachsbleiche Antlitz des mystischen Fremdlings,
Wechselnden Mienenspiels,
Mich grauenvoll anstarrte,
Bald wie Christus, bald wie Mephisto
Und bald – o Gott! – wie mein eignes Spiegelbild!
Da gerann mir das Blut in den Adern zu Eis
Und an die wilder pochende Stirn
Tastete meine Hand wie im Fieber
Und zitternd frug ich:
„Was willst du?? Wer bist du??“

„Was willst du? Wer bist du?
Windiges Püpplein!“ lachte der Schreckliche,
„Ist da das Küchlein kaum aus dem Ei geschlüpft
Und klatscht schon verwegen
Mit seinen ärmlichen,
Schalenumschlotterten Federchen,
Flügelstolz, wie der alte,
Braungesprenkelte Weih,
Der über ihm hoch in blauer Luft
Beutelüsterne Kreise zieht!
Wer bist du!! Was willst du!!
Thor, der so fragt!
Beherbergt dein winziges Menschengehirnchen
Etwa noch mehr solcher ungezogenen,
Täppischen Schulbubenwitze?
Schleudre erst von dir, weit, weit von dir,
Dein florumflattertes, schellenumklingeltes,
Kleinliches Selbst;
Entziffre Nachts unterm Sternenhimmel
Das grosse Räthselbuch der Natur;
Begreife mit deinem Zwergverstand,
Wie die Blume blüht und die Sonne scheint;
Frage dich selber, woher und wohin;
Und hat sich dein Fürwitz,
Dein kleiner, menschlicher Fürwitz,
Dann noch nicht erschöpft:
Dann fasse dir – wenn du es kannst –
Noch einmal ein Herz,
Dann tritt noch einmal hier vor mich hin
Und frage noch einmal:
Was willst du? Wer bist du?
Und ich werde dir – wenn du es willst –
Das Urbild der Wahrheit zeigen,
Schleierlos, wie ein nacktes Weib,
Und auch du wirst dann sein wie der alte Gott,
Der einst in sein herrliches Paradies
– Dem Teufel zu Liebe! –
Eigenhändig einen Apfelbaum pflanzte,
Und wissen, was böse, doch nicht, was gut ist!!

Doch à propos ich werde pathetisch!
Und graue Haare und Gelbschnabelphrasen
Sind immer komisch!
Verflucht!
Ich glaube, dein Monolog,
Den du dir erst
– Dort am Thürgerüst! –
„Nicht bleich und neidvoll“
Vordeklamirtest,
Ist Schuld an dem Unsinn, den ich geschwatzt!
Doch setzen wir uns!
Nicht wahr, du erlaubst doch?“
Sprach’s und liess sich, ironisch lächelnd,
Mir gegenüber in den alten,
Grossgeblümten Lehnstuhl fallen,
Der sich, der hohen Ehre bewusst,
Bedenklich nach vorn bog und Knickknack! sagte,
Legte phlegmatisch ein Bein übers andre,
Nieste, rief: Prosit!
Zupfte sich etwas am Kragen zurecht
Und fuhr dann in seiner Rede fort:

„Mensch und Poet,
Sieh mal nach, was die Uhr ist!
Was, eine goldne?
Meine war silbern nur
Und blieb mir leider schon treulos stehn,
Als Cäsar über den Rubikon ging.
Dreiviertel zwei?
Dann hab ich noch Zeit!
Der nächste Schnellzug nach Buxtehude
Geht ja bekanntlich erst 7 Uhr 50!

Doch wenn ich nicht irre, riecht’s hier nach Kaffee!
Wie wär’s denn, mein Freund,
Wenn du mir, deinem Gast,
Einen Löffel voll anbötest?
Seit Muhameds Hedschra
War ich in Mokka nur zwei – oder dreimal
Und – ländlich, schändlich! –
Seit Sir Francis Drake trink ich nur Schnaps!
Ausnahmen mach ich nur manchmal in China,
Wo ich mich zopfgerecht
Mandarin titulire
Und Thee wie Wasser saufe,
Und – last not least, wie wir Engländer sagen –
Mein Freundchen, bei dir!
Und warum denn auch nicht?
Variatio delectat!

Für Zucker dank ich!
Milch nur ein wenig!
So, das genügt! –

Variatio delectat!
O du mein Cicero,
Göttlichster unter den Göttlichen!
Deine Nase war krumm,
Aber das Gold, das Gold deiner Rede
Blitzte und floss
– Um ein verbrauchtes Bild
Gelegentlich wieder aufzuputzen –
Von deinen Lippen wie Honigseim!

Wie? Du lächelst?
Wurm, der du bist!
Du kennst ihn ja nur
Aus der Unter-Sekunda her,
Als du noch weisheitochsend die Bänke drücktest
Und schon nach dem ersten,
Weltberühmten: „Quousque tandem“
Trotz Eselsbrücken und Präparation
Schmählich stecken bliebst!
Ich aber habe mit ihm,
Einst als mein Bart, mein langer Judenbart,
Noch nicht ganz so grau war wie heute,
In den hängenden Gärten
Seines Tusculums
Bei einem Henkelkruge
Goldnen Falerners
Brüderschaft getrunken!
Durch die zitternden Pinien brach silbern das Mondlicht,
Fern von den Bergen her, triefend von Wohllaut,
Tönte das Lied der römischen Hirten
Und aus dem bläulichen Dunkel der Grotten
Leuchteten weiss und verführerisch
Die nackten Glieder gemietheter Nymphen.
Wir aber sprachen, falernerseelig,
Ueber die platosche Philosophie
Und schimpften weidlich auf Catilina,
Den Carbonari!
Und zwar in den schönsten, classischen Formen
Und gebrauchten nie ut mit dem Indicativ
Und verstummten erst lange nach Mitternacht,
Wohlig eingewiegt von weissen,
Schwellenden Frauenarmen!
Ja, Homo Homunculus,
Das waren noch Zeiten!
Zeiten, von denen sich,
Frei nach Shakespeare,
Eure tintentrunkene Schulweisheit
Heut nichts mehr träumen lässt!

Doch Scherz bei Seite!
Nicht um ein Stündlein mit dir zu verplaudern,
Malträtir ich hier deinen Lehnstuhl!
Dein Schutzgeist, ein kleiner, niedlicher Blondkopf,
Hat oft meiner Grossmutter,
Der alten Hekate,
An dunklen Winterabenden,
Wenn wir gemüthlich ums Höllenfeuer hockten
Und Sünder wie Bratäpfel schmorten,
Lange Geschichten von dir erzählt:
Wie du schon in der Wiege,
Als kleiner Schreihals,
Dich in den schwierigsten Rhythmen geübt
Und später als fünfzehnjähriger Dandy
Krampfhaft höhere Töchter besungen
Und pralineenaschend hyperplatonisch
Für Zuckerwasser und Mondschein geschwärmt,
Bis du nun endlich – mit 20 Jahren! –
Eine Reimfabrik etablirt
Und selbstzufrieden mit goldnen Lettern
Ueber die Thür gemalt:
Weltverbesserungsoffizin!
Natürlich brüllte die ganze Gesellschaft
Dann dreimal: Hurrah!
Der „Chor der Verdammten“ erging sich johlend
In den polizeiwidrigsten Verbalinjurien
Und Beelzebub gar
Biss sich vor Lachen in seinen Schwanz!
Ich aber dachte an Karl Moor
Und sprach mit Schiller, deinem Collegen:
Dem Mann kann geholfen werden!
Denn seit man auf Erden hier
Neben die Kirchen,
Kasernen und Zellengefängnisse
Auch Irrenhäuser,
Sparkassen und Volksküchen baut,
Folg ich der Mode und mache in Mitleid
Und so sitz ich denn nun
Hier in deinem Museo
Und predige also:

Mensch!
Kind dieses „aufgeklärten“ Jahrhunderts!
Bist du denn wirklich naiv genug
Und glaubst, wie ein Kindlein,
Die Ritzen des Weltbaus
Mit Versleim verstopfen zu können?
Gibst du dich wirklich dem Köhlerwahn hin,
Und bildest dir ein,
Dein schädelgeborener Mikrokosmos
Würde den fadenscheinigen Groschenseelen
Deiner lieben, unsterblichen Mitwürmer
Auch nur einen Pfifferling werth sein?
Ich aber sage dir:
Und wenn Camoens, der Portugiese,
Noch einmal lebte
Und noch einmal seine Lusiaden sänge,
Die Welt stiefs ihn noch einmal kalt ins Spital
Und noch einmal müsste der „Stern von Lisboa“
Auf faulem Stroh elend verrecken,
Angespien wie ein toller Hund!!

Glaube mir, Freund!
Die Menschheit,
Diese concentrirte Bestie,
Die mit der Zeit
Gelehriger noch als ihr äffischer Urahn,
Der erste Pavian,
Scepter und Kronen apportiren gelernt,
Hat immer nur hündisch
Ihrem Bändiger die Hand geleckt Und kothbespritzt
Sich behaglich ihrer Verdauung gefreut,
Indess die grossen, herrlichen Dulder
– Ihre Wohlthäter! –
Weltverlassen am Kreuz verblutet,
Oder im Kerker elend verschmachtet!
Denk an Christus, denk an Columbus!

Auch ich war einst jung,
Auch mir ging der Kopf oft
Schwärmerisch mit dem Herzen durch;
Und wenn ich dann singend und lustberauscht
Durch den Frühlingsgarten der Schöpfung gewandelt,
Dann hab ich beseligt geglaubt wie du
An die goldene Zeit und den ewigen Frieden,
An das verheissene Eldorado!
Doch der Schleier zerriss,
Und unter dem Lenzgrün der sündigen Erde,
Neben die Schuppenthiere der Urwelt
Grauenvoll hingelagert,
Sah ich die höhnisch grinsenden Schädel
Ganzer Geschlechter,
Die vor mir gelebt und gelitten wie ich,
Würmerdurchkrochen!
Und über die Gräber
Wälzte sich wüst
Durch den lachenden Sonnenschein
Ein grässlicher Pestknäul
Von Noth und Sünde,
Gold und Blut,
Schlangenumzischt!
Und die liebliche Freundin meiner Seele,
„Die edle Trösterin, Treiberin Hoffnung,“
Weinte sterbend
Ihre letzten Thränen!

Und so stand ich denn nun,
Zweifelnd, verzweifelt,
Auf diesem wüsten,
Entsetzlichen Trümmerball,
An dem einst ein Gott
Sieben Tage,
Sieben lange, verlorene Tage,
Nutzlos herumgemurkst,
Und lauschte begierig den weisen Sprüchen
Der alten indischen Evangelisten.
Und sie raunten mir zu:
„Was lebst du noch, Thor?
Tauch dich hinab,
Tief hinab
In das selige Urnichts!
Millionen Sonnen
Sind schon verblutet
Und aber Millionen noch
Werden verbluten
Und du?
Fliehst den Tod?
Dies elende Sein
Ist des Seins ja nicht werth!
Was lebst du noch, Thor?
Tauch dich hinab,
Tief hinab
In das selige Urnichts!“
Ich aber habe, Prometheus zum Trotz,
Gerungen wie Faust und gelitten wie Hiob,
Bis ich mich endlich, blutenden Herzens,
In das eherne Schicksal gefügt.
Doch glaube mir, Freund,
Hamlet hat Unrecht:
Der Rest ist nicht Schweigen,
Der Rest ist Verachtung!

Und so wandl‘ ich denn nun,
Wie mein Bruder, der ewige Jude,
Auf dieser „besten aller Welten“
Ruhlos umher, ein lebendiger Leichnam,
Und denke mit Salomo: Alles ist eitel!
Nur manchmal noch, manchmal,
Wenn sich die Sonne purpurn ins Meer taucht,
Oder der Frühling hoch auf die Berge steigt,
Oder „auf ewig“ im ersten Kuss
Zwei Herzen sich finden,
Zwei arme, thörichte,
Wankelmüthige Menschenherzen:
Klingt’s durch die Weihnachtsglocken der Kindheit
Mir süss wie die Stimme meiner Mutter,
Meiner schönen, todten Mutter,
Und ich denke zurück an die alte Zeit,
Als ich im Volk noch des Menschen Sohn hiess!
Damals war ja mein Herz,
Mein armes Herz,
Noch kein todtes Uhrwerk;
Lieblich grünten die Thäler von Hebron,
Mir zu Füssen rauschte der Jordan
Und blutroth blühte die Rose von Saron!
Ich liebte, liebte und wurde geliebt
Und freudig trug ich die „frohe Botschaft“,
Die goldne Legende,
Unter die Fischer am See Genezareth.

Doch Teufel! was red ich!
Nickt denn nicht grinsend von meinem Käppi
Die fuchsrothe Hahnenfeder Mephistos?
Und bin ich nicht oft mit Marte Schwertlein
Schäkernd im Mondschein,
Hart an der Stadtmauer,
Arm in Arm durchs „Wurzgärtlin“ gestelzt?
Indess mein Blutsfreund, der junge Magister,
Unterm blühenden Rosengebüsch
Seinem blonden, schnippischen „Grasaffen“
Zärtlich die Cour schnitt? –

Mensch!
Stier mich nicht an!
Glaubst du, ich kram hier im Fieberwahn
Tollhausentsprungene Märchen dir aus?
Seh ich denn aus, wie ein Charlatan?
Sieh mich doch recht an!
Hat dich nicht schliesslich alles getäuscht
Und bin ich nicht du?
Und dennoch verkriecht sich dein furchtsames Ich
Scheu in sich selbst?
Graut dir vor mir?
Papperlapapp! Ich heisse nicht Heinrich!
Schlag ein neutraleres Thema vor
Und ich rede so dumm, wie der ehrlichste Spitzbub!
Ah voilà – dein Manuscript!
Mal her das Geschreibsel!
Was? Verse?
Schon wieder mal Verse?
Natürlich! Für Prosa
Hält sich der gnädige Herr ja zu schade!
Schlag da der Teufel drein!
Gut, dass mein Schwager, der alte Weltgeist,
Dich nicht zum Hausarzt hat!
Hättest ihm längst schon mit deinen verfluchten
Lyrischen Universaltinkturen
Homöopathisch den Magen verdorben!
Kenne die Verse!
Habe dir oft, wenn du Nachts bei der Lampe
Brütend am Federhalter gekaut,
Ueber die Schulter gekuckt.
Zwar, Recht muss Recht bleiben:
Die allerfadesten, die ich gelesen,
Sind’s grade nicht –
Elise Polko gibt schlechtre heraus!
Zum mindesten scheinen sie
Fein ciselirt und bunt wie Perlmutter!
Und doch! Ben Akiba hat wieder mal Recht:
Alles schon dagewesen!
Du aber dünkst dich das Urgenie selbst,
Wirfst lukullisch
Mit neuen Reimen und alten Gedanken
Wie mit Aepfelschalen umher,
„Dichtest und denkst“,
Schreibst dann dein Machwerk
In ein kleines, schwindsüchtiges Heftlein
Säuberlich ein
Und nennst es pomphaft:
Buch der Zeit! –
Eins gegen Hundert!
Ich wette, auch du, Freund, denkst nun bereits,
Materiell wie alle Poeten:
Süss, o süss schmeckt der erste Kuss,
Aber noch süsser, weit, weit süsser
Schmeckt das erste, heissersehnte
Goldig klimpernde Honorar!
Hoffentlich, Mensch, „Krone der Schöpfung“,
Hat dir dein Gönner, Ben Machol,
Noch nichts drauf gepumpt?
Wäre doch schad um sein koscheres Geld!
Oder hast du schon
– So unter der Hand –
Nach einer Villa dich umgesehn?
Im Winter Berlin, im Frühjahr Florenz,
Im Herbst Paris, und im Sommer Ostende!
Famoses Leben das!
Pyramidal!! Fasanenhaft!!!
Und Lorbeeren?
Ganze Viehwagen voll!
Nicht wahr, mon cher, ich hab es errathen?
Nicht? Na, denn nicht!
Nur nicht die Miene gekränkter Unschuld!
Bist doch kein Mädel, das nur geküsst sein will!
Und sagt nicht ein altes Volkslied schon:
Ein braver Kerl und ein braver Knuff,
Die passen halt immer zusammen?
Item,
Wie Doctor Martin sagt,
Schiessen wir endlich den Vogel ab!

Mensch!
Zeitgenosse von Emile Zola!
Weltverbessrer par excellence!
Bist du denn ganz und gar vernagelt
Und siehst du nicht ein, wie das Publikum,
Das Massenpublikum deiner Zeit,
Hundertmal lieber
Wiener Schnitzel als Verse verdaut?
Wer liest denn heut welche?
Junge Mädchen am Einsegnungstage,
Oder, wenn’s hoch kommt, verliebte Primaner
Und – was das Schlimmste! –
Wer macht denn heut welche?
Lässt dich dein sterblicher Galgenhumor
Nicht schmählich im Stich,
Dann mustre doch einmal
Das elende Phrasendreschergezücht
Der Kathederpoeten und Sonntagsdichter!
Alles nur Blaustrümpfe, männliche Blaustrümpfe!
Ach, und kein einziger ehrlicher Kerl,
So ein Kerl, was man Kerl nennt!
Hinc illæ lacrimæ!
Du aber streichst dir, tief in Gedanken,
Schon martialisch den Schnurrbart in spe
Und regierst die Feder, als wär sie ein Wurfspeer,
Und rufst wie Hutten: Ich hab’s gewagt!
Lass doch, mein Freundchen; lass doch, wozu denn?
Wozu denn dich opfern, opfern für nichts?
Wozu denn verhungern wie Doktor Tanner?
Macht heut bei Licht besehn keinen Effekt mehr!
Die goldne Zeit des heilgen Antonius
Ist gottlob vorüber!
Wärst du noch Jungfer, ich proponirte dir:
Geh in ein Kloster!
So aber rath ich dir dringend und ernsthaft:
Werde Professor in Königsberg
Und schreibe die Memoiren Odhins!
Selbstverständlich in Stabreimprosa!
Pump dir das Schreibrohr
Des Herrn Mirza von Schaffy
Und schlage das Tamtam und predige Weisheit!
Kauf dir ein Landgut und handle mit Possen!
Meinethalb auch mit alten Hosen!
Und wenn dir das Geld fehlt,
Kauf dir den Toussaint und übersetze
Englische Gouvernantenromane!
Thu, was du willst!
Giess dir ins Wasserglas Cognac hinein
Und verkünde befrackt „populär“ vom Katheder
Wie der erste Mensch und der letzte Papu
Sich so verteufelt ähnlich gesehn!
Fasle das Blaue vom Himmel herunter!
Tanz auf dem Seil! Schneide Gesichter!
Werde Schuster!
Werde Weinreisender!
Leg dich auf Flohdressur
Und fertige Patente,
Fertige Zöpfe und falsche Waden!
Mache Reklame, Guano und Caviar!
Mach, was du Lust hast,
Nur keine Verse!
Dixi, Poetlein!
Dixi! Dixi!

Also sprach er, der grobe Poltron,
Der „Schwager des Weltgeists“,
Der „Enkel der Hekate“,
Und frug noch einmal, ob es schon Zeit sei,
Und drückte mir dann,
Au revoir! wie er lächelnd meinte,
Die tintenbeklexten Poetenfinger
So echt deutsch und hausknetsch,
Dass ich lautauf wie ein wunder,
Homerischer Held
Ô moi egô schrie und –
Erwachte! …..
Natürlich!!!

Vor mir,
Auf dem wachsüberzogenen Schreibtisch,
Lagen die Bücher und Manuscripte
Wüst durcheinander,
Das „Goldlicht der Lampe“ wär längst erloschen
Und statt des „braunen Kaffeedufts“
Zog sich stickig der Brenzelgeruch
Des schwarzverkohlten Dochts durch das Zimmer.
Sonst aber stand, lag und hing
Alles noch an seinem alten,
Gewohnten Platz.
Hüben die gelbsüchtge Venus von Gyps,
Drüben der Raphaelische Kupferstich,
Links der Papierkorb und rechts die Wasserpfeife!
Nur draussen hatte sich unterdess
Das Bild geändert.
Weiss und kalt
Stahl sich durchs Fenster das Morgenlicht,
Linkshin hatte das Wiener Café
Schamhaft seine Spiegelscheiben verhängt
Und über den Asphalt wälzte sich dumpf
Das wiedererwachte Geräusch der Strasse.

War das dieselbe Welt?
Die Welt von gestern?
Und sollten die Bilder,
Die tollen Bilder der letzten Nacht,
Nur Traumbilder gewesen sein,
Traumbilder einer „erhitzten Phantasie?“

Doch still! es klopft und lächelnd tritt
Mein Stubennachbar zu mir herein,
Der neugebackene Referendar,
Sagt: „Moi’n!“ und lässt sich dann,
Leger wie immer,
In meinen alten,
Wackligen Lehnstuhl fallen,
Dreht sich zärtlich seinen blonden,
Wohlgekräuselten Henri Quatre
Und näselt dann los:

Hoffentlich stör ich hier nicht?
Wollte Sie nur im Vorbeigehn fragen:
Haben Sie heute Vormittag Zeit?
Hat da ein ehmalger Leibfuchs von mir
Gestern den Doktor gemacht,
Utriusque natürlich!
Fidele Kneipe gewesen, saufidel!
Natürlich etwas spät nach Hause geklettert…
Famoser Frühschoppen heut!
Erlanger Bier! Patentes Gesöff!
Kommen doch mit? –
Nicht?!
Ei verfault!
Na dann sei’n Sie mal –
Donnerwetter! Wie sagt man doch schon?
Grosskohtz! Richtig!
Grosskohtz und bleichrödern mir
So Stück zehn, zwanzig Mark!
Wissen doch!
Kurz vor dem Ersten,
Momentane Verlegenheit,
Handschuh bezahlt,
Na, und so weiter!
Kennen den Krempel ja!
In circa acht Tagen
Schickt mir der Alte wieder Moos.
Bis dahin, schlage vor: Theilen!
Natürlich, nur Bismark zum Aerger!
He? Famoser Witz das?
Nicht wahr, Herr College?
Doch à propos, ich sag da „College“!
Ist doch gestattet?
Nicht wahr?
Machen doch auch Verse?


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